Scham, insb. im Sinne von ‹sozialer Klassenscham›, wird in den letzten Jahren in mehreren Biographien von ‹sozialen Aufsteiger:innen› – etwa in «Ein Mann seiner Klasse» von Christian Baron 2020, in «Retour à Reims» von Didier Eribon 2009, in «La Honte» von Annie Ernaux 1997 oder in «Qui a tué mon père» von Édouard Louis 2018 – veranschaulicht. Den Romanen von Eribon und Louis lässt sich aber auch entnehmen, wie sehr die rassistischen, homophoben und misogynen Einstellungen und Gewalterfahrungen, denen die Autoren in ihrer Kindheit ausgesetzt waren, sie schließlich dazu gebracht haben, ihre sexuelle Orientierung und ihre Klassenherkunft aus Scham zu verleugnen.
Diesen Werken ist gemeinsam, dass sie durch das Gefühl der Scham hindurch die sozialen Herrschaftsverhältnisse genauso eindrücklich offenlegen wie die Verletzungen und Wunden, welche die symbolischen Unterdrückungsweisen der Macht in der Leiblichkeit, im emotionalen Erleben und in der Selbstachtung hinterlassen. Mit der Versprachlichung, mit der literarischen Thematisierung der schambehafteten Entfremdung aus dem Arbeitermilieu im Rahmen einer autobiographischen Prosa wird die Scham aus dem Bereich des Persönlichen, des Privaten, in den des Politischen und des Öffentlichen überführt – und als Produkt und Produzent sozialer Ungleichheitsverhältnisse beleuchtet. Während anthropologische Analysen zu Scham nach den strukturellen Möglichkeiten des Sich-Schämens fragen, ermöglichen soziologische und sozialtheoretische Zugänge Scham in ihren sozialen Entstehungsbedingungen, unter gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen zu erklären.
Vor dem Hintergrund solcher Zugänge und in Rückbezug auf die erwähnten Werke wird im Beitrag entfaltet, inwiefern das Gefühl der Scham, welches das Selbst vor dem Hintergrund einverleibter Normen reguliert, ein ambivalentes ist: Es mag insofern als «bad feeling», als etwas Belastendes gelten, als es mit Unterlegenheit, mit dem Verlust von Selbstachtung und ggf. mit sozialem Ausschluss einhergeht. Indem jedoch Scham zugleich wertend Stellung zu sozialen Verhältnissen und Erwartungen bezieht, macht sie – in einem durchaus positiven Sinne – auf die Problematiken bestimmter hegemonialer Normen aufmerksam und lässt sich als leiblicher und moralischer Einsatz der Kritik deuten.
... ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Kindheit und Jugend an der Université de Fribourg und Leiterin des Universitären Zentrums für frühkindliche Bildung Fribourg. Nach ihrem Studium der Erziehungswissenschaft, Deutschen Philologie und Philosophie in Mannheim und Frankfurt am Main war sie DFG-Promotionsstipendiatin an der Universität Bielefeld, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Zürich und Vertretungsprofessorin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der sozialwissenschaftlichen Kindheits-, Körper- und Emotionsforschung insb. zu den Phänomenen Scham, Vulnerabilität und Well-being, in der Erziehungs- und Bildungsphilosophie sowie in der qualitativ-empirischen Bildungs- und Ungleichheitsforschung. Sie ist u.a. Mitherausgeberin der Buchreihe «Kindheit – Bildung – Erziehung: Philosophische Perspektiven» (Metzler, seit 2019) sowie der Bücher «Zum Schweigen. Macht/Ohnmacht in Erziehung und Bildung» (Velbrück, 2015) und «Shame and Social Work. Theory, Reflexivity and Practice» (Policy Press, 2020).