Astrid Erll
Gewalt, Erinnerung, Temporalitäten
Die Frage danach, wie Menschen in unterschiedliche Gewaltgeschichten „verstrickt“ sind (biographisch, historisch, strukturell, ökonomisch etc.), wird im Feld der Memory Studies mit dem Konzept des „implizierten Subjekts“ (M. Rothberg) diskutiert. Dieser Input fragt, wie solche Subjektpositionen mit verschiedene Temporalitäten der Erinnerung an Gewalt verknüpft sind. Dabei geht es um den Unterschied zwischen Erinnerungsakten „vor“ und „nach“ Gewalt (wie wir ihn im hessenweiten BMBF-Projekt „Transformations of Political Violence“ diskutieren). Es geht auch um die Frage nach der Durchdringung von Zeitschichten im kollektiven Gedächtnis und der jeweiligen Valenz, die Vergangenheit in Diskursen um Gewalt erhält. Für wen beispielsweise sind Holocaust oder Kolonialgeschichte „abgeschlossene“ Vergangenheiten, für wen wirken sie bis heute fort? Für wen ist Erinnerung an Gewalt eine zeitlich rückwärtsgerichtete Beschäftigung, für wen dominant gegenwartsbezogen und für wen erscheint sie als ein Projekt für die Zukunft? Ziel dieses Inputs ist es also, die Frage nach den Temporalitäten von Gewalterinnerung mit der Frage nach dem „implizierten Subjekt“ zu verbinden.
Teresa Koloma Beck
Gewaltsoziologie ohne Zuschauerplätze
Der Vortrag interessiert sich für die Schnittstelle zwischen Gewaltforschung und Erinnerungskultur. Er untersucht, was geschieht, wenn Forschende Gewaltphänomene nicht aus interessierter Distanz analysieren, sondern mit den untersuchten Geschehnissen durch (familien)biographische Bezüge auf persönliche Weise verbunden sind. Diese Frage ist nicht nur in der Auseinandersetzung mit historischen Gewaltdynamiken wie etwa dem Holocaust relevant, sondern auch in der Forschung zu bewaffneten Konflikten der Gegenwart. Und sie gewinnt an Relevanz, denn die wachsende Pluralität der Gesellschaft, die sich auch im akademischen Feld widerspiegelt, führt dazu, dass das gemeinsame Nachdenken über Gewalt zunehmend im Horizont sehr unterschiedlicher Erfahrungen stattfindet. Der Vortrag interessiert sich für die damit einhergehenden Spannungen und Konflikte und fragt, inwiefern diese heuristisch produktiv gewendet werden können.

© Nikolai Linares
Prof. Dr. Dr. h.c. Astrid Erll ist Professorin für anglophone Literaturen und Kulturen an der Goethe Universität Frankfurt und Gründerin der „Frankfurt Memory Studies Platform“ (FMSP). Sie forscht vergleichend zum kollektiven Gedächtnis, mit Publikationen u.a. zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Deutschland und Großbritannien, zu den Irakkriegen im Hollywood-Film, zur Gedächtnisgeschichte der Odyssee, zu Erinnerung im kolonialen und postkolonialen Indien oder zur Holocausterinnerung in der deutschen Erinnerungskultur. Ihre Einführung in die Gedächtnisforschung (Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005/2017) ist in viele verschiedene Sprachen übersetzt worden. Ihr neuestes Buch heißt Travels in Time: Essay on Collective Memory in Motion (Oxford UP, 2025).

Teresa Koloma Beck forscht zu Alltag und Globalisierung in Kriegs- und Krisenkontexten, mit besonderem Interesse für die Gegenwart kolonialer und imperialer Geschichte. Sie ist Professorin für Soziologie an der Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg. Gemeinsam mit Klaus Schlichte verfasste sie Theorien der Gewalt zur Einführung (Junius 2020; 3. überarb. Auflage).