Titelmotiv CGColloquium Sommersemester 2020 sowie Wintersemester 2020/2021

© Mwanel Pierre-Louis - ‚The Moments of These Moments‘ (2019), Acrylic on Wood Panel. - www.mwanel.com

Sprache: 
Deutsch und Englisch
Online
Präsenzveranstaltung
22. April 2020 (all day) bis 3. Februar 2021 (all day)
Sommersemester 2020 und Wintersemester 2020/2021

Raum 1.G191, soweit nicht anders angegeben

‚Intersektionalität‘ ist ein Konzept, das den Blick auf die Kreuzung (engl. ‚intersection‘), Verflechtung oder Wechselwirkung verschiedener Ungleichheitsverhältnisse richtet. Entwickelt wurde dieser Ansatz, um soziale Platzanweiser wie ‚race‘, ‚class‘ und ‚gender‘ in ihrer Verschränkung sichtbar zu machen. Am Kreuzungspunkt wird Diskriminierung unsichtbar, so die Kritik Schwarzer Frauen. Die Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw zeigte dies am für dieses Konzept paradigmatischen Fall DeGraffenreidt vs General Motors (1976). Schwarze Frauen hatten gegen ihre Entlassung geklagt, die General Motors nach dem Prinzip „last hired, first fired“ vornahm, da sie überproportional betroffen waren. Nach der Argumentation von General Motors, der das Gericht folgte, lag hier keine rassistische Diskriminierung vor, da Schwarze Männer nicht überproportional betroffen waren und es lag keine Geschlechtsdiskriminierung vor, da weiße Frauen ebenfalls nicht überproportional betroffen waren. Dass Schwarze Frauen – im Unterschied zu weißen – erst ab 1964 eingestellt worden waren, fand keine Berücksichtigung.

Seit einigen Jahrzehnten werden Intersektionalitätsdebatten in globalen feministischen wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen geführt. Mithilfe rassismuskritischer, post- und dekolonialer Perspektiven werden Analysen von komplexen Unterdrückungsverhältnissen vorgenommen, um auf dieser Grundlage Gerechtigkeitspolitiken zu erarbeiten, Handlungsstrategien und neue Methodologien zu entwickeln. Intersektional zu denken und zu handeln, ist dabei mehrfach begründet: durch den Ausschluss Schwarzer Frauen, durch das Antidiskriminierungsrecht und durch die Notwendigkeit einer Revision von wissenschaftlichen, feministischen Politiken und Erkenntnistheorien. Wissenschaftliche Analysen und die Frage sozialer Gerechtigkeit sind in intersektionalen Ansätzen folglich verknüpft.
In Deutschland haben insbesondere die Interventionen Schwarzer, jüdischer, migrierter und lesbischer Frauen an internationale Debatten angeschlossen und damit wichtige Impulse für die Intersektionalitätsdebatte geschaffen. Den Mittelpunkt intersektionaler Einsätze bildet ein „doppelter Blick“ auf Unterdrückungsverhältnisse und Privilegien einerseits und auf die Bedeutung von Othering-Prozessen andererseits. Diese zeigen sich etwa in der Konstruktion der Figur der Dritte-Welt-Frau als gewissermaßen notwendigem und gleichzeitig verworfenem Gegenbild des modernen westlichen Feminismus.

Die in der internationalen Intersektionalitätsdebatte entfalteten Analyseansätze weisen folglich eine Engführung feministischer Politik und Forschung, bei der Gender als Masterkategorie fungiert, zurück und nehmen stattdessen die historisch und gesellschaftlich je spezifischen sozialen Benachteiligungsfaktoren in den Blick (Sexualität, soziale Klasse, Race/ Ethnizität, Dis/ability, Zugehörigkeit etc). Als Gegenstände intersektionaler Zugänge können die Ko-konstitution von Machtund Herrschaftsverhältnissen und die damit verbundenen Hervorbringungen von Subjektivierungen, Handlungsmöglichkeiten und –begrenzungen und ihren Folgen für individuelle Lebenslagen beschrieben werden. Eine zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist auch, wie sich das Subjekt eines politischen Feminismus und einer feministischen Wissenschaft denken lässt, wenn das bisherige Subjekt des Feminismus aufgegeben werden muss, weil es ethnozentrische, koloniale und imperialistische Ausschlüsse produziert.
In dieser Vortragsreihe werden aktuelle Debatten aufgegriffen, die sich sowohl auf den erkenntnistheoretischen Status von Intersektionalität als auch auf Potenziale und Grenzen für einzelne Disziplinen beziehen; darüber wird die Frage diskutiert, wer mit dem Intersektionalitätskonzept arbeiten kann: Stellt das Konzept eine Theorie, eine Heuristik oder eine Methodologie dar? Wem ‚gehört‘ das Konzept? Wie wird es im Rahmen der Sozial- und Erziehungswissenschaften, der Disability Studies und der Rechtswissenschaft heute verwendet? Und können/sollten Schwarze Wissenschaftler*innen das Konzept aufgrund seiner identitätspolitischen Herkunft anders für sich beanspruchen als weiße?

Veranstalter*in: 
Konzeption: 
Bettina Kleiner, Helma Lutz, Marianne Schmidbaur
Koordination: 
Lucas Schucht

Die Cornelia Goethe Colloquien sind ein offenes Diskussionsforum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung. Interessierte* sind herzlich eingeladen!